Das Bundesverfassungsgericht hat im November 2021 einen langwierigen Streitpunkt der Verkehrsrechtsdogmatik bezüglich der Akteneinsicht von sogenannten „Rohmessdaten“ aus „standardisierten Messverfahren“ entschieden. Demnach hat ein Bürger das Recht, dass ihm eine erweiterte Einsicht in die Akte seines Bußgeldverfahrens gegeben wird, vor allem hinsichtlich Informationen über das Messprotokoll, das genaue Messergebnis in Form der Rohdaten, dem Eichschein, sowie ausführliche Informationen und Bedienungsanleitungen des eingesetzten Messgerätes.
Dem Fall liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Betroffene wurde im Bußgeldverfahren einer Geschwindigkeitsüberschreitung beschuldigt. Bereits im Verwaltungsverfahren begehrte dieser die Einsicht in seine Ordnungswidrigkeitsakte. Zusätzlich zur „normalen“ Akteneinsicht forderte er die Einsicht in die Lebensakte des verwendeten Messgerätes (im vorliegenden Fall handelte es sich um das Gerät PoliScan Speed M1 des Herstellers Vitronic). In dieser gerätespezifischen Akte sind Informationen bezüglich der Rohmessdatenerfassung, dem Messprotokoll, dem genauen Messergebnis sowie dem Eichschein enthalten. Zudem forderte er die Behörde dazu auf, ihm als Privatperson die Bedienungsanleitung des Gerätes zu übersenden.
Ihm wurde lediglich eine PDF-Datei mit der Bedienungsanleitung des Geschwindigkeitserfassungsgerätes zugesendet, hinsichtlich der anderen Informationen lehnte die Behörde eine Einsichtnahme ab. Diese seien nach der Argumentation der Beamten kein Bestandteil der Ermittlungsakte. Ein daraufhin folgender Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG verwarf das Amtsgericht als unzulässig, da zum Zeitpunkt der Antragstellung keine Beschwer mehr vorlag. Durch den danach eingelegten Rechtsbehelf des Einspruchs kam es zur gerichtlichen Verhandlung. Es folgte die Verurteilung nach dem Bußgeldbescheid.
Dagegen wandte sich der Verurteilte mit einer Rechtsbeschwerde zum Oberlandesgericht Bamberg. Die Richter des OLG lehnten diese aufgrund materieller Unbegründetheit ab. Es blieb bei der amtsgerichtlichen Entscheidung.
Gegen die konkrete Entscheidung des Oberlandesgerichts Bamberg legte der Beschwerdeführer nun eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein. Die Richter des BVerfG gaben der Beschwerde statt und stellten fest, dass durch das Unterlassen der Herausgabe der geforderten Unterlagen der Verurteilte in seinem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt wurde.
Zwar bestätigte das BVerfG, dass bei einem standardisierten Messverfahren die Sachverhaltsaufklärungs – und Darlegungspflicht der aufklärenden Gerichte reduziert sei. Dennoch sei zu beachten, dass aus dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren auch im Ordnungswidrigkeitsrecht abzuleiten ist, dass der Beschuldigte Kenntnisse von solchen Inhalten erlangt, welche zum Zweck der Ermittlung entstanden sind. Dies gelte auch für den Sonderfall, wenn die besagten Informationen nicht in die Akte aufgenommen wurden. Wenn der Betroffene Zugang zu Infos begehrt, die abseits der Gerichtsakte bestehen, um sich Gewissheit über seine Entlastung dienender Tatsachen zu verschaffen, so ist ihm dieser Zugang grundsätzlich zu gewähren.
Jedoch ist auch zum Schutz der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszuganges notwendig. Deshalb müssen die hinreichend konkret benannten Informationen eine besondere Relevanz für die Verteidigung aufweisen, um eine uferlose „Informationssammlung“ zu vermeiden und Rechtsmissbrauch zu verhindern. Die Richter äußerten sich hier, dass die angeforderten Daten jedoch im Sinne eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens als „bedeutsam“ behandelt werden können und somit unter den Auskunftsanspruch fallen.
Zwar bleiben die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens im Ordnungswidrigkeitsrecht erhalten. Dank dieser verfassungsrechtlichen Entscheidung wurde dem Opfer des Verfahrens jedoch hinsichtlich der Informationsbeschaffung der Rücken gestärkt. Auch die neueste Entscheidung zu diesem Thema seitens des BayObLG schließt sich weitestgehend der Meinung des BverfG an. Dennoch sind die bayerischen Richter der Meinung, dass eine pauschale Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren noch nicht gegeben sei, falls es lediglich zur Ablehnung der Überlassung der Rohmessdaten gegenüber dem Betroffenen kommt. Dieser habe kein Anspruch auf die komplette Übertragung aller gespeicherten Daten.
Die Zukunft wird zeigen, wie sich die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung in der gerichtlichen Praxis ausgeübt wird. Sollten Sie in ein Bußgeldverfahren verwickelt sein, welches auf einem standardisierten Messverfahren beruht, so ist es ratsam, eine erweiterte Akteneinsicht über einen Verkehrsrechtsexperten zu beziehen und dadurch gegebenfalls notwendige Informationen zu gewinnen, die für positiven Verlauf und Ausgang ihres Verfahrens existenziell sind.
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, 12.11.2020, 2 BvR 1616/18
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Hinweis:
Bitte beachten Sie, dass es einer genauen Prüfung des Einzelfalls bedarf, um herauszufinden, ob sich Ihr eigener Sachverhalt genau mit dem oben geschilderten Anwendungsfall deckt. Für diesbezügliche Rückfragen stehen wir Ihnen selbstverständlich gerne zur Verfügung.
Wir informieren Sie auf jeden Fall gerne im Voraus zu allen anfallenden Kosten.
Sven Skana
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Anwalt für Strafrecht
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